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Henke: „Todeswunsch oft Hilflosigkeit der Betroffenen“

In der Debatte um ein neues Sterbehilfe-Gesetz stellt sich Rudolf Henke (CDU) einer Meinung entschieden entgegen: Dass lediglich der Suizid ein Tod in Würde ist. Für den Bundestagsabgeordneten bringt das Menschsein auch Leid mit sich. Im Gespräch mit aktuellinfo nimmt  der 61-Jährige klar Stellung zu Sterbehilfe durch Ärzte und Vereine und sagt, warum sich mehr Sterbehilfe-Angebote schlecht auswirken.

Rudolf_Henke
Fotograf: Andreas Hermann

Sie betonen, dass Leiden zu „unserer Bedingtheit als sterbliche Menschen“ gehört. Inwiefern haben Sie Verständnis für Menschen, die dem Leiden durch Sterbehilfe entkommen wollen?
Henke: „Ich habe diesen Satz als Reaktion auf die Aussage eines Kollegen getroffen, der während der Orientierungsdebatte im Deutschen Bundestag meinte, die moderne Medizin würde dazu beitragen, dass es chronische Krankheiten, Siechtum, chronische Leiden und sichere Unheilbarkeitsprognosen gibt. Ich habe darauf erwidert, dass ich anderer Meinung sei und denke, das bringen unsere Bedingtheit als sterbliche Menschen und ein auch mit eigenem Leiden konfrontiertes Leben mit sich.“

Wie stehen Sie zur aktuellen Debatte des Bundestags?
Henke: „Es geht mir in dieser Debatte auch darum, dass die Tötung eines Patienten, auch wenn sie auf dessen Verlangen erfolgt, sowie die Beihilfe zum Suizid nicht zu den Aufgaben der Ärzte gehören. So sieht es auch die Berufsordnung der in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte vor. Deshalb bin ich auch strikt gegen Regeln, die Ärzten die Beihilfe zum Suizid oder die Tötung auf Verlangen zur Aufgabe machen würden.“

Sollten zusätzlich Vereine Sterbehilfe leisten dürfen?
Henke: „Ich werbe für ein Verbot organisierter oder anderweitiger geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe. Ich setze darauf, dass wir so auch der Werbung für die Suizidunterstützung den Boden entziehen. Ich will dem Eindruck entgegentreten, es sei unnatürlich und stelle eine Einschränkung persönlicher Freiheit dar, am Lebensende auf den Mitmenschen angewiesen zu sein. Zudem möchte ich nicht in einer Gesellschaft leben, in der sich Menschen mit der Frage beschäftigen müssen: „Darf ich weiterleben oder muss ich sterben wollen und mich dann selbst töten?“

Schaffen mehr Angebote zur Sterbehilfe mehr Nachfrage?
Henke: „Wenn man sich die Zahlen aus den Ländern anschaut, in denen Tötung auf Verlangen zulässig ist, lassen sich durchaus derartige Schlüsse ziehen. Durch das Wirken von Sterbehilfeorganisationen entsteht die Gefahr eines gesellschaftlichen Klimas, in dem sich altersschwache, kranke oder behinderte Menschen ausgegrenzt oder als finanzielle Last für die Gesellschaft fühlen und zum Suizid gedrängt werden könnten.“  

Wie kann verhindert werden, dass sich solche Menschen zum Tod gedrängt fühlen?
Henke: „Der Wunsch nach dem Tod resultiert oft aus Hilflosigkeit und der Unwissenheit der Betroffenen. Klärt man einen Patienten jedoch über bestehende Behandlungsmöglichkeiten auf, die ihnen die Schmerzen, die Atemnot oder Übelkeit nehmen und ein Sterben in Würde ermöglichen, so hat er in aller Regel keinen Suizidwunsch mehr. Deshalb muss die Aufklärung über die Möglichkeiten, die uns die Palliativ- und Hospizversorgung bieten, verbessert werden.“

Wünschen Sie sich mehr Debatten, in denen es keinen Fraktionszwang gibt?
Henke: 
„Sterbebegleitung und Suizidassistenz sind ethisch sehr sensibel. Ich befürworte es, dass sich jeder Abgeordnete fraktionsübergreifenden Anträgen anschließen kann und  seine eigene Meinung nach bestem Wissen und Gewissen vertreten kann, da es eine sehr persönliche Entscheidung ist. Allerdings denke ich, dass in der Mehrzahl der Sachfragen ein Einklang der Abgeordneten einer Fraktion erst einmal anzustreben ist, im Sinne der Fraktionsdisziplin.“

 

Mehr zu Rudolf Henke

Aktuellinfo zum Thema Sterbehilfe:

Bericht zum neuen Gesetz

Kommentar zum Thema

 

 

 

Wenn nichts mehr geht

Der Tod liegt nicht in unserer Hand. Eigentlich. Was aber, wenn ein Mensch sein Leben aufgrund gewisser Umstände nicht mehr lebenswert findet? Der Bundestag debattiert in diesen Tagen über ein neues Gesetz zur Sterbehilfe. Die Meinungen der Abgeordneten sind dabei besonders breit gefächert, da es in dieser Debatte keinen Fraktionszwang gibt. Eine erste Bundestagsdebatte mit vielen emotionalen Reden gab es im vergangenen Dezember.

Neue Gelder: Künftig bundesweit 600 Millionen Euro für Sterbegleitung

In der Palliativarbeit werden die Schmerzen von todkranken Menschen gelindert, teilweise werden auch die Symptome einer Krankheit behandelt. Hospizarbeit dagegen soll es Menschen ermöglichen, in einer schönen Umgebung würdevoll zu sterben. Für den Ausbau dieser Bereiche plant die Bundesregierung jährlich 200 Millionen Euro mehr ein. So soll es auch auf dem Land künftig keine lückenhafte Versorgung mehr geben.

Noch in diesem Jahr stimmt der Bundestag über ein neues Sterbehilfe-Gesetz ab. In den bisherigen Reden zeigte sich bereits, die Politiker sind sich einig: Keiner soll sich qualvoll umbringen müssen. Ebenso herrscht unter den Abgeordneten Einigkeit darüber, dass Sterbehilfevereine keinesfalls profitorientiert arbeiten sollen. Auch die aktive Sterbehilfe, also der Todeswunsch ohne medizinische Not, soll weiterhin verboten sein.

Soweit war es das mit der Einigkeit. Die Abgeordneten sprachen für sich und ihre Entwürfe, teilweise gegen Politiker der eigenen Fraktion. Parteiübergreifend gibt es vier Gesetzentwürfe:

1.: Ärzte sollen beim Suizid helfen dürfen

Bisher bewegen sich Ärzte in Deutschland in einer Grauzone, was Sterbehilfe angeht. Behilfe zum Suizid ist zwar bislang straffrei, aber mehrere Landesärztekammern verbieten Ärzten diese Möglichkeit. Mit dem Antrag von CDU- und SPD-Politikern soll passive Sterbehilfe künftig im BGB für Ärzte ausdrücklich erlaubt sein.

Die Voraussetzung: Der Patient muss volljährig, unheilbar krank sein und einwilligen – ein zweiter Arzt muss das dann bestätigen. Man dürfe die Tür für die kleine Gruppe von Menschen, die den Tod trotz „aller Angebote der Palliativmedizin“ als nicht würdevoll empfinden, nicht verschließen, betonte Mitantragssteller Karl Lauterbach von der SPD.

2.: Sterbehilfevereine erlaubt – solange nicht profitorientiert

Sterbehilfevereine sind umstritten. So war in der Debatte von Menschen zu hören, die in Beratungsgesprächen solcher Vereine zum Tod gedrängt wurden. Für solche Fälle, in denen Sterbehilfevereine lediglich auf Profit aus sind, solle es Haftstrafen von bis zu drei Jahren geben, fordert dieser Antrag von Grünen- und Linken-Politikern. Auch Ärzte sollen Rechtssicherheit haben und passive Sterbehilfe ausführen dürfen.

3: Jeden Fall einzeln bewerten

Dieser Entwurf ist der einzige, an dem Abgeordnete aus allen Fraktionen beteiligt sind und bei dem auch Gesundheitsminister Hermann Gröhe seine Zustimmung signalisiert. Auch hier soll verhindert werden, dass Sterbehilfevereine profitorientiert arbeiten, ebenso unter Androhung einer Haftstrafe. Vereinzelt solle es aber erlaubt sein, im Fall einer „schwierigen Konfliktsituation.“

4: Sterbehilfe streng bestrafen

Ein Antrag aus der CDU möchte Sterbehilfe jedweder Form verbieten. Anstiftung oder Hilfe zur Selbsttötung soll mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden, fordern die Antragsteller. Damit wäre Sterbehilfe für Ärzte, Angehörige und Vereine verboten. Lediglich für einen Ausnahmefall mit extrem großem Leid lassen sich Abgeordneten hier eine Hintertür offen.

Mehr Möglichkeiten = mehr Selbsttötungen?

Die Anträge reichen also von einem strikten Sterbehilfeverbot, über eine Erlaubnis für Ärzte bis hin zu einer Legitimation auch für Sterbehilfevereine. Verschiedene Argumente treffen in der Debatte aufeinander. „Auch bei Sterbehilfe schafft Angebot Nachfrage“, warnte Michael Brand von der Union.

Diese These unterstützt Linken-Abgeordnete Kathrin Vogler und verglich die Situation mit Zeiten des Sturm und Drangs, in denen das Buch „Die Leiden des jungen Werthers“ viele nachahmende Suizide zur Folge hatte. Unions-Politiker Peter Hintze widersprach diesem Bild und kritisierte, diese Warnungen seien „tiefes Misstrauen gegenüber unseren Ärzten“ und „gegenüber dem Menschen, der frei und selbstbestimmt sein Leben führen will.“

Müssen wir Leiden als Teil des Lebens hinnehmen?

Auch die Freiheit über das eigene Leben ist ein Grundargument. Petra Sitte, Abgeordnete der Linken, hat ihren Vater beim Sterben begleitet. Er habe schwer gelitten und in den letzten Tagen seines Lebens die Nahrungsaufnahme verweigert, ehe „er endlich mit multiplem Organversagen hinüberdämmern konnte“, berichtete sie.

Für Tausende sei es eine „schreckliche Vorstellung“, dem Tod gut gepflegt entgegenzugehen, betonte die bekennende Atheistin. Dagegen kritisierte Rudolf Henke von der Union, es werde der Eindruck erweckt, dass lediglich der Suizid ein Sterben in Würde sei. Dabei bringe „unsere Bedingtheit als sterbliche Menschen“ auch ein Leben mit sich, das mit eigenem Leiden konfrontiert werde.

Die Debatte drehte und wird sich um diese Argumente drehen. Die Politiker werben für ihre Überzeugungen, dieses Mal frei von jeder politischen Orientierung, oft aufgrund persönlicher Erfahrungen. Für eine Regelung der Sterbebegleitung brauche die Politik eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, äußerte Carola Reimann von der SPD, und schlussfolgerte: „Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte.“ Die wird es nun geben.

 

 

 

9. Mai in Berlin: Von Selfies und Nazis

„Ich will auch so eine Russland-Fahne“, sagt ein kleiner deutscher Junge zu seiner Mutter im Treptower Park in Berlin. Er hat den Sinn des 9. Mai nicht verstanden – wie auch. Die Menschenmassen, die sich an diesem Tag durch Berlin bewegen, sind sich ja selbst nicht einig. Antifaschisten und Rechte demonstrieren an diesem Tag an vielen Plätzen.

Am 8. Mai 1945 trat die Kapitulation in Kraft, welche die Wehrmacht zuvor unterschrieben hatte. In Russland wird der 9. Mai als „Tag des Sieges“ angesehen, weil aufgrund der Zeitverschiebung die Aufgabe der Wehrmacht in Moskau erst am Folgetag galt. Es gibt viel Geschichtliches zu diesem Ereignis zu wissen – das ist aber an anderer Stelle zu lesen.

Diesen 70. Jahrestag möchte ich nutzen, um die Stimmung und die Gruppierungen zu beobachten. Ich schwinge mich auf´s Fahrrad und möchte einen Tag lang an den wichtigen Plätzen sein, spreche mit vielen Menschen. Am Ende des Tages habe ich einen gewichtigen Eindruck des 9. Mai 2015 bekommen – und viele Geschichten. Entstanden ist deshalb eine Reportage, die sich nicht unbedingt auf harte Fakten, dafür auf viele Impressionen stützt.

Treptower Park: Tausende Bürger, Politiker und die Nachtwölfe

Der Treptower Park ist an diesem Tag ein wichtiger Anlaufpunkt. Hier, in Treptow, sind viele sowjetische Soldaten begraben. Um elf Uhr ist der Park am Vormittag bereits voll von Menschen. Viele in Berlin lebende Russen gedenken hier mit Blumen den gefallenen Russen des Zweiten Weltkriegs. Davon machen Viele  Erinnerungsfotos, die Symbolträchtigkeit des Augenblicks scheint ihnen wichtig.

Trauermarsch im Treptower Park
Trauermarsch im Treptower Park

Während des Trauermarschs sind aus der Menge immer wieder vereinzelte Worte zu hören, denen ein gemeinsam gerufenes „Hurra“ folgt. Darunter seien Rufe für Russland, gegen Faschismus und für das Gedenken an die gefallenen Russen, erklärt mir eine Russin, die mitläuft. Überall im Park zücken die Menschen ihre Smartphones, um Fotos oder auch Selfies vor einem Mahnmal zu machen.

Eine russische Frau mittleren Alters schließt sich kurz vor dem Ende des Trauermarschs den Laufenden an. Ihre Tochter müht sich, eilt mit der Handykamera durch die Menschenmassen nebenher. „Nur ein Foto“, ruft die Mutter ihr zu – die Tochter filmt den kurzen Marsch ihrer Mutter allerdings. Offensichtlich wird auch hier, wie wichtig ihnen die Symbolik des Mitlaufens, des Mitgedenkens ist.

Neben dem Treptower Park feiern die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und der Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Jubiläum. Seit zehn Jahren organisieren sie auf einem großen Platz zum 9. Mai ein Fest. In diesem Jahr ist das Fest wegen dem Jubiläum und dem 70. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkriegs besonders groß.

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Jutta Harnisch leitet die Berliner Geschäftsstelle des Vereins

„Für die Verfolgten, die im KZ überlebt haben, hat dieser Tag eine ganz große Bedeutung“, sagt mir Jutta Harnisch. Sie ist stolz darauf, dass ihr Verein in diesem Jahr zum zehnten Mal das Fest organisiert. Auf die Demonstrationen von Rechten an diesem Feiertag angesprochen, sagt sie: „Unsere jungen Mitglieder machen eine Gegendemo.“ Über die App „Berlin gegen Nazis“ seien sie immer über rechte Demos informiert. „Die Rechten beunruhigen mich trotzdem“, gibt Harnisch zu.

„Ein schönes Fest“, findet eine deutsche Besucherin. Auch wegen der Musik, auch wegen des guten Essens, aber vor allem wegen „vieler politischer Gründe“ komme sie gerne zum 9. Mai auf den Festplatz. Junge Antifa-Gruppen organsieren hier das „schöne Miteinander“, das auch Harnisch so gut findet.

Ihr Verein widme sich vor allem drei Punkten: „Dem Kampf gegen den modernen Nazismus und Populismus sowie Gedenk- und Flüchtlingsarbeit.“ Das ist aus ihrer Sicht auch nötig, denn: „Die Rechten werden einen Aufschub bekommen, das ist ganz klar.“ Dafür stünden auch Pegida und die AfD, die bei Landtagswahlen „aus dem Stand heraus über fünf und zehn Prozent“ geholt habe.

Feier der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und des Bundes der Antischfastinnen und Antifaschisten
Dank an die Befreier aus dem Naziregime

„Ich verneige mich vor den Befreiern der Konzentrationslager, Berlins und Europas“, ruft bei dem Fest ein Mann den mehrheitlich anwesenden Russen unter den Besuchern zu – die Frau neben ihm übersetzt ins Russische. In dem Moment ist lautes Motorengetöse zu hören. Die Nachtwölfe?

Motorengeheul´ unter Applaus
Motorengeheul´ unter Applaus

Unter dem Jubel der Menge ziehen sie aus – Richtung Bundestag, Richtung Hauptbahnhof zu einer Kundgebung von Rechten Gruppen. Dort werden sie wegen Polizeisperren aber nicht angekommen. Ob Antifaschisten, Faschisten, Alternative – auf jeder Kundgebung ist der Unmut zu hören, die Polizei solle doch die Menschen zu den Demonstrationen durch lassen.

Auf meinem Weg zu anderen wichtigen Orten, geplanten Kundgebungen vor dem Kanzleramt sowie vor dem Hauptbahnhof, drückt ein ganz in schwarz gekleideter Mensch seinen Unmut aus: „Mann, seid ihr eklig. Ihr kommt alle aus euren Dreckslöchern, das ist aber unser Gebiet hier!“, ruft er den Russen mit ihren Blumen zu. Eine Einstimmung auf das, was mich am Hauptbahnhof erwartet?

Hauptbahnhof: Treffpunkt für Patrioten, Rechte und Nazis

Vor dem Berliner Hauptbahnhof versammeln sich viele Gruppierungen, vereint in der Kritik an der Bundesregierung und der Aufnahme von Flüchtlingen. Rund 350 Demonstranten versammeln sich – angesichts der angekündigten 1000 eine äußerst geringe Anzahl. „Würden die Züge nicht ausfallen, wären Tausende mehr gekommen“, meint Einer genervt.

Das Restaurant direkt neben der Kundgebung gerät aufgrund von Absperrungen zum einzigen Anlaufpunkt für Toilettengänge. „Nazis lassen wir hier nicht rein“, meint die Bedienung vor der Veranstaltung. Als vor ihr ein breit gebauter Mann mit Glatze und einem schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck „Nahkampf. Vollkontakt. Kategorie C.“ steht, lässt sie ihn doch passieren.

Bevor es losgeht, rede ich mit Jürgen Elsässer. Der Chefredakteur des politischen Magazins Compact soll heute vor den Demonstranten reden. Der 58-Jährige ist dieser Tage ein umstrittener Redner, mit seinen Positionen links wie rechts vertreten. Auf die Frage, was der 9. Mai für ihn persönlich bedeute, sagt er aktuellinfo: „Das ist ein Feiertag, an dem die Länder zusammenkommen und auch Deutsche und Russen zusammenkommen, im Sinne eines Europa der Vaterländer und des Friedens.“ Diese Zusammenkunft sei ihm wichtig.

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Jürgen Elsässer ist ein politischer Aktivist

Um 15 Uhr soll es losgehen mit seiner Rede. Um Punkt 15 Uhr fängt es an zu regnen. Die Nationalsozialisten weichen vom Vorplatz des Hauptbahnhofs vor den Eingang, wo ein Dach vor dem Regen schützt. Dort machen sie sich über „die linken Zecken“ lustig, die auf der anderen Seiten der Spree im Regen stehen. Diese versuchen von dort aus die Reden vor dem Hauptbahnhof mit Trillerpfeifen zu stören.

Auf der einen Seite der Spree: Antifaschisten
Auf der einen Seite der Spree: Antifaschisten

Aus der Menge vor der Bühne schreit jemand die Nazis vom Vordach zurück – es geht los. „Mein Name ist Jürgen Elsässer – und meine Zielgruppe ist das Volk“, beginnt der Journalist seine Rede. Applaus der Menge. „Mein Ziel ist eine Volksfront“, sagt er. Darin solle der Querschnitt der Bevölkerung, Menschen verschiedenen Alters und aus allen politischen Richtungen vertreten sein: „Alle vereint für die nationale Souveränität Deutschlands, für unsere Traditionen und den Frieden.“

Das sei „keine Sache von links oder rechts, sondern eine Sache der Vernunft, des Patriotismus in Zeiten der entfesselten Globalisierung.“ Damit holt Elsässer diejenigen Zuhörer ab, die sich selbst als „konservativ“ oder „patriotisch“ bezeichnen. Vielmehr scheint aber der Patriotismus ein Deckmantel für Menschen mit rechtem Gedankengut zu sein.

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Eine Frau schiebt einen Gehwagen vor sich her. Darauf ein handbeschriebenes Schild: „Vielleicht kommt irgendwann mal wieder die Zeit, in der man Patriot sein darf, ohne als Nörgler zu gelten.“ Später steht sie mit ihrem Wägelchen bei den Nazis. Auch für die hat Elsässer Worte parat. „Wir werden nicht zusehen, wie Flinten-Uschi unsere Söhne und Töchter wieder zum Sterben nach Stalingrad schickt. Dieses Mal (…) für die Profite der amerikanischen Gen- und Erdölindustrie.“

Besonders „abscheulich und heuchlerisch“ finde er in diesen Tagen „unseren Bundespräser, Herrn Gauck“. Bevor Elsässer begründen kann, warum, rufen die Leute „Volksverräter, Volksverräter!“ Der Redner hat seine Zuhörer schnell emotionalisiert. Elsässer weiter: „Dieser Gauck, der heuchlerisch von einem sowjetischen Soldatenfriedhof zum anderen pilgert, aber gleichzeitig zum aktuellen Krieg gegen Russland hetzt.“

Nach dem Regen folgt nun die zweite Störung. Linke haben es vor den Bahnhofseingang geschafft. Sie rufen freudig: „Ihr habt´ den Krieg verlor´n, ihr habt den Krieg verlor´n, ihr habt, ihr habt den Krieg verlor´n!“ Sie selbst sehen sich durch den 9. Mai als befreit vom Nationalsozialismus an – die Rechten als Verlierer des Kriegs. Schnell kommen die Nationalisten, nur wenige Meter und viele Polizisten trennen die beiden Gruppen.

Singen lautstark unter dem Bahnhofsvordach
Antifaschisten singen lautstark unter dem Bahnhofsvordach

Aus der Menge der Nationalsozialisten fliegt eine Bierflasche in Richtung der Gegner. Sie rufen: „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“, und lassen folgen: „Antifa, Hurensöhne.“ Jürgen Elsässer redet derweil erfolglos gegen die Auseinandersetzung an. Jetzt hat er seine Zuhörer verloren.

"Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen"
„Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“

Eine dritte Demonstration hat weitaus weniger Besucher. Etwa 30 Menschen sitzen vor einer kleinen Bühne, auf der ein Sänger seine Lieder gegen Krieg und Faschismus darbietet. Der Rap-Beat ist locker, geht gut ins Ohr. Die Message: „Es kam nicht von allein´, man ließ es gut gedeih´n!“ Eine Anspielung auf Lobbyisten, die den Krieg – unter anderem monetär – unterstützten.

Demo gegen Faschismus
Demo gegen Faschismus

Am Ende des Tages stelle ich mein Fahrrad ab. Es bleiben mir viele Eindrücke – nebenbei auch ein Video der Berliner Zeitung, das mich beim Fotografieren der Auseinandersetzung zwischen den Linken und Rechten zeigt (vorne an der Absperrung). Das Video stellt die verbalen Streitigkeiten der beiden Gruppen gut dar.

Genau das ist es auch, was ich erlebt habe. Der 9. Mai 2015 in Berlin war ein Tag des Gedenkens – aber auch ein Tag von Links und Rechts, in dem es nicht um die Befreiung Deutschlands, sondern viel um TTIP, Merkel und die NSA ging.

 


Galerie zum Gedenken und den Demonstrationen am 9. Mai in Berlin
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PKW-Maut: Gerecht oder diskriminierend?

Ein Versprechen vom bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer an seine Wähler in Bayern löste die mittlerweile europaweite Debatte um die PKW-Maut aus. Zur jährlichen Tagung der CSU Anfang 2013 versprach er seiner Partei, dass die PKW-Maut eingeführt werde. Nun, zwei Jahre später, konnte der 65-Jährige mit dem Beschluss im Bundestag  einen politischen Erfolg feiern. Die Mehrheit brachten die Union und SPD zustande, die Grünen- und die Linke-Abgeordneten stimmten größtenteils dagegen.

Der Begriff „Ausländer-Maut“, der mancherorts kursiert, ist inhaltlich nicht richtig. Das Thema betrifft zwar hauptsächlich Ausländer, viel mehr geht es aber um die Autos an sich: Im Ausland zugelassene PKW´s sind betroffen. Deren Halter müssen die Maut von bis zu maximal 130 Euro leisten. Zahlen müssen die Maut ab 2016 zunächst alle Autofahrer. Allerdings erhalten die nicht betroffenen Halter eine entsprechende Vergünstigung in der KFZ-Steuer.

Mögliche Hürden: Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof

Dieser Umstand ist zugleich der Kern des Streits. Werden lediglich ausländische Fahrzeughalter für die Benutzung der Straßen zur Kasse gebeten? Nach Meinung der Gegner ist dies verfassungsrechtlich und nach Europarecht nicht zulässig – deshalb hoffen sie auf eine Ablehnung des Gesetzes spätestens durch den Europäischen Gerichtshof. Ob die PKW-Maut in der Form den Prüfungen standhält, bleibt fraglich. Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) ist davon überzeugt, wie er bei der Bundestagsabstimmung den Abgeordneten versicherte: „Sie ist europarechtskonform, glauben Sie es endlich!“

Die meisten EU-Staaten erheben zwar eine Maut, allerdings für inländische und ausländische PKW´s. Mit dieser Form der Maut wäre Deutschland bisher alleine. Abgesehen von der Rechtmäßigkeit ist die Frage nach der Rentabilität dieses Gesetzes ebenfalls ungeklärt. Zunächst rechnete Verkehrsminister Dobrindt mit 700 Millionen Euro an Einnahmen. Eine Studie ergab dann: Es kann lediglich mit 320 Millionen Euro kalkuliert werden, wovon noch Verwaltungskosten abgingen und gar nur 80 bis 140 Millionen Euro übrig blieben.

NRW-Verkehrsminister zu aktuellinfo: Mehr LKW-Maut statt PKW-Maut

Hier setzen die Kritiker ebenfalls an: Die Einnahmen seien für den im Gegenzug folgenden Ärger mit den Nachbarländern nicht hoch genug. Diesen befürchtet vor allem der Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, Michael Groschek (SPD), wie er im Austausch mit aktuellinfo berichtet. Der 58-Jährige brachte den Begriff „Murks-Maut“ in Umlauf. Groschek rechnet damit, dass Belgien und die Niederlande als Konsequenz ebenfalls eine PKW-Maut einführen – was dann Autofahrer in NRW besonders betreffe.

Zudem bringe die Umsetzung der Maut voraussichtlich weniger als die von Bundesverkehrsminister Dobrindt prognostizierten 500 Millionen Euro an jährlichen Einnahmen und sei damit gegenüber den benötigten Geldern für Deutschlands Straßen in Höhe von jährlich 7,2 Milliarden Euro nicht sehr bedeutend. Dennoch ist es Geld, das Deutschlands Straßen zu Gute kommt. Die Frage ist nur: Ist es in dieser Höhe den drohenden Ärger wert?

Als Lösung schlägt Groschek vor, mehr Lastkraftwagen zur Kasse zu bitten. So solle das Limit der belangten LKW´s von 12,5 Tonnen auf 7,5 oder 3,5 Tonnen herabgesetzt und die Lkw-Maut auf alle Straßen ausgeweitet werden. Damit würden die tatsächlichen Verursacher von Straßen- oder Brückenschäden belangt, so der Verkehrsminister von NRW.

PKW-Maut: CSU setzt sich gegen CDU und SPD durch

Vor der Landtagswahl im September 2013 nutzte Seehofer das Thema nochmals, um sich gegen seinen damaligen Herausforderer, Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) in Position zu bringen: „Wie man etwas durchsetzt in Berlin oder Brüssel, da habe ich jetzt wirklich reichlich Erfahrung.“ Am Ende reichte es für Seehofers CSU zur absoluten Mehrheit im bayrischen Landtag.

Ob gewollt oder nicht: Seehofer hatte sich mit dem Versprechen fest gerannt: „Ich könnte aus Koalitionsverhandlungen ohne die Maut für Ausländer nicht nach Bayern zurückkommen. Mit einem Prüfauftrag ist das nicht getan“, sagte er dem Spiegel im September 2013. Zu diesem Zeitpunkt ging er auf Konfrontatiosnkurs mit den anderen Parteien.

Bundeskanzlerin Merkel: Vom Nein zum „Jein“ und zum Ja

Kanzlerin Angela Merkel schloss beim TV-Duell um die Kanzlerkandidatur im Herbst 2013 die PKW-Maut noch aus: „Mit mir wird es keine PKW-Maut geben“, sagte sie da. Später wandelte sie ihre Aussage dann um. Kein deutscher Autofahrer dürfe durch die Maut zusätzlich belastet werden, forderte Merkel später. Die CSU um Seehofer hatte ihre Druckmittel um den Fortbestand der „Union“ gut ausgespielt. Weder die CDU, noch die CSU möchten die Union aufkündigen – was die bayrische Partei aber nicht davon abhält, die Grenzen dieser Zusammenarbeit zu testen.

Nun hat der Bundestag das Gesetz beschlossen. Mit diesem hat die Kanzlerin mit ihrem nachgebesserten Versprechen, deutsche Autofahrer dürften nicht zusätzlich belastet werden, zumindest Recht behalten. Ob mit der PKW-Maut das „Kind der CSU“ aber bald schon auf festen, statt auf wackligen Beinen steht, bleibt abzuwarten. Bislang waren aus Brüssel Zweifel zu hören, aber die EU-Kommission wollte zunächst den Beschluss abwarten.

NPD-Verbot: Das sind die Risiken

Nazis? Die sollen in der Politik nicht mitbestimmen dürfen! Ganz so einfach, wie es in der Diskussion um das Verbotsverfahren der NPD oft zu hören ist, ist es dann doch nicht. Zum einen gibt es fundierte Zweifel, ob Parteien in einer Demokratie verboten werden sollten, zum anderen ist ein solches Parteiverbotsverfahren nicht hürdenlos zu bewältigen.

Diese Hürden verschrecken, die Antragssteller werden vorsichtig. Einen solchen Antrag können drei Organe stellen: Der Bundestag, Bundesrat und die Bundesregierung. Acht Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe entscheiden dann darüber. Für ein Verbot bedarf es aber der Zwei-Drittel-Mehrheit unter den Abstimmenden, was sechs Richtern entspricht.

Erster Antrag scheiterte 2003: Skandal um V-Leute in NPD-Spitze

Warum sich die drei genannten Organe mit einem Antrag schwer tun, lässt sich neben den Hürden auch mit dem ersten gescheiterten NPD-Verbotsverfahren gut beschreiben. 2001 beantragten sowohl die Bundesregierung, als auch der Bundesrat und Bundestag das Verfahren. Zwei Jahre später wurde es ohne Anhörung oder Verhandlung vom Bundesverfassungsgericht eingestellt.

Zu einer abschmetternden Niederlage entwickelte sich der Antrag, weil Mitarbeiter vom Verfassungsschutz als führende Kräfte in der NPD agiert haben sollen. Letztendlich beruhten zu viele Beweise – wie verfassungsfeindliche Aussagen – auf Menschen, die eigentlich gar nicht für die NPD aktiv waren. Der damalige Innenminister Otto Schily dementierte noch, dass die NPD durch V-Leute (Vertrauenspersonen) des Verfassungsschutzes gesteuert worden sei. Das Verfahren wurde wegen der Problematik um die V-Leute dennoch für beendet erklärt.

 Soll man die NPD überhaupt verbieten?

Häufig treffen zwei Argumente aufeinander. Für ein Verbot der NPD spricht die Ausrichtung der Partei. Wer die Demokratie und Verfassung angreift, soll politisch nicht agieren dürfen. Dagegen spricht allerdings: Die Stärke einer ausgewogenen Demokratie sollte es sein, auch extrem anderweitige Meinungen zuzulassen. Gerade seit der NS-Zeit sind Parteien durch das Grundgesetz besonders vor Verboten geschützt.

Fernab davon wird oftmals die politische Belanglosigkeit der NPD als Argument genannt. Mit 1,3 Prozent der Stimmen war die Partei bei der Bundestagswahl 2013 weit davon entfernt, die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen. Die rund 5000 Mitglieder erscheinen mickrig gegenüber etablierten Parteien wie der CDU oder SPD, die jeweils etwa die 100-fache Anzahl verzeichnen.

Die Partei kratzt, was ihr politisches Mitspracherecht angeht, an der Bedeutungslosigkeit.  Aber schließlich erhält sie Geld vom Staat: Ihre Haupteinnahmequelle sind Gelder aus der staatlichen Parteienförderung – und die erhält die Partei bereits dadurch, dass sie bei Landtagswahlen in der Mehrheit der Bundesländer mehr als ein Prozent der Stimmen bekommt. Doch sollte es bei einem Parteiverbot nicht eher um Grundsätzliches gehen, anstatt ein Verfahren erst bei politischer Relevanz anzutreiben?

Neuer Vorstoß: Bundesrat beantragt Verbot ein zweites Mal

Die deutliche Absage des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2003 sorgte für Ernüchterung unter den Befürwortern des Verbots. Lange Zeit blieb es um diese Thematik deshalb still. Nachdem Verbindungen der NPD mit der terroristischen Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bekannt wurden, kamen die Forderungen nach einem Verbot der Partei wieder auf.

Im Dezember 2012 beschloss der Bundesrat, einen erneuten Antrag stellen zu wollen. Die Bundesregierung entschied sich gegen einen eigenen Antrag – auch im Bundestag fand dies keine Mehrheit mehr. Nach einem heutigen Bericht der taz ist allerdings wieder ein Streit um die V-Leute entbrannt. Demnach möchte Thüringen als einziges Bundesland seine Informanten aus der NPD abziehen.

„Ein Scheitern des Verfahrens wäre eine Katastrophe.“

Ein potentielles Problem, zu viele Entscheider und vom Staat bezahlte Informanten in der NPD zu haben, scheint damit nicht gelöst, die Aussichten bleiben wage. Die taz zitiert den Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU). Dieser spricht sich wegen der „wachsenden Gefahr im politischen Extremismus“ gegen den Abzug von V-Leuten aus – viel mehr seien diese „unverzichtbar“.

Bundestagspräsident Norbert Lammert bringt die Befürchtungen auf den Punkt: „Alle sind sich einig, dass ein Scheitern eines Verfahrens eine kaum überbietbare politische Katastrophe wäre.“ Nun forderte das Bundesverfassungsgericht den Bundesrat auf, mehr Nachweise einzubringen, dass in der Anklage kein Material von V-Leuten enthalten ist. Bis Mai hat der Bundesrat Zeit, entsprechende Belege einzureichen.

 

 Weiterführende Quellen:

Für Die Welt kommentiert Thomas Schmid, warum ein NPD-Verbot keinen Sinn macht:

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article115619283/Warum-die-NPD-nicht-verboten-werden-darf.html

In der Zeit nennen Özlem Topcu und Heinrich Wefing Vorteile eines NPD-Verbots:

http://www.zeit.de/2012/50/NPD-Verbot-Pro-Contra

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fall Edathy: Quo vadis, deutsches Recht?

Für viele hasserfüllte Kommentare in den Online-Netzwerken sorgte Sebastian Edathy. „Ich bin wütend“, twitterte Til Schweiger nach Bekanntgabe des Urteils – für 5000 Euro wurde das Verfahren eingestellt. Franz Josef Wagner bezeichnete Edathy in seinem bekannten Bild-Kommentar als „Verbrecher“ und urteilte: „Er muss in ein Krankenhaus, Spezialisten müssen sich darum kümmern.“

Der ehenalige Bundestagsabgeordnete der SPD soll  nach Informationen der Süddeutschen Zeitung zwischen 2005 und 2010 neun Mal Bilder oder Filme angefordert haben, auf dem neun bis 14-Jährige Jungen zu sehen sein sollen. Nicht alles zeige aber sexuelle Handlungen, es gehe auch um FKK-Bilder von Kindern, schreibt die Zeitung.

Edathy: „Moralisch nicht in Ordnung, aber legal“

„Ich weiß, ich habe viele Menschen enttäuscht. Das tut mir aufrichtig leid“, sagte Edathy bei einer Pressekonferenz im Dezember 2014. Schon da berichtete der 45-Jährige, der zuständige Richter habe „intern vor einigen Wochen den Vorschlag gemacht hat, das Verfahren gegen einer überschaubare Geldauflage einzustellen.“ Über das bestellte Material sagte er: „Ich war und bin nach wie vor der Überzeugung, dass das sicherlich moralisch nicht in Ordnung, aber legal war.“

Öffentlich geworden war der Skandal Anfang 2014. Kanadische Ermittler fanden heraus, dass die Firma Azov weltweit kinderpornografisches Material vertreibt. Die Ermittler übergaben im Oktober 2013 dem Bundeskriminalamt (BKA) eine Liste mit etwa 800 deutschen Kunden, darunter auch Edathy.

Einen Monat später wusste Edathy nach eigenen Angaben von Parteikollegen Michael Hartmann bereits von der Liste. Nachdem ein verdecktes Verfahren eingeleitet wird, erklärt er Anfang Februar 2014 aus gesundheitlichen Gründen seinen Verzicht auf das Bundestagsmandat. Kurz darauf durchsucht die Staatsanwaltschaft seine Wohnungen und Büros und findet unter anderem zerstörte Festplatten. Am selben Tag meldet Edathy seinen Dienst-Laptop als gestohlen. Edathy setzte sich ins Ausland ab, nachdem er nach eigenen Angaben bedroht wurde.

Oppermann telefoniert vier Minuten lang mit BKA-Chef – und dieser spricht nicht?

Welche Informationen daraufhin wann und an wen weitergegeben wurden, sorgt bis heute für Zündstoff. Im Zentrum stehen zwei Aktionen: Der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) informierte seinen Koalitionspartner und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel über den Fall Edathy. Nach öffentlichem Druck zwang ihn diese Aktion im Februar 2014 zum Rücktritt.

Über Gabriel gelangt die Information zum Parteikollegen Frank-Walter-Steinmeier, der widerrum dem damaligen Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, berichtet. Um sich zu vergewissern, ruft Oppermann BKA-Chef Jörg Ziercke an. Offiziell durfte Ziercke, ebenfalls SPD-Mitglied, keine Auskunft geben – und doch wusste Oppermann im Nachhinein Bescheid.

Ein Telefonat, das der Beschreibung Oppermanns nach ziemlich komisch abgelaufen sein muss. Nach dessen Angaben habe er Ziercke lediglich seinen Wissenstand vorgetragen. Nachdem dieser weder kommentiert, noch dementiert habe, habe er das als Zustimmung gewertet. Ziercke sagte im Innenausschuss, er habe sich in dem über vierminütigen Gespräch lediglich mit seinem Namen gemeldet.

Edathy nicht vorbestraft – SPD will ihn aus der Partei ausschließen

Für die Einstellung des Verfahrens zahlt Edathy eine Geldauflage von 5000 Euro an den Jugend- und Kinderfeuerwehrverband Niedersachsen. Der Kinderschutzbund war zuvor als Empfänger angedacht gewesen, hatte das Geld aber abgelehnt. Für das Urteil musste Edathy zudem aussagen, sich im Internet kinderpornografisches Material besorgt zu haben. Damit gilt der 45-Jährige als nicht vorbestraft. Einen Tag später schreibt Edathy über sein Facebook-Profil, dass ein Geständnis von ihm nicht vorliege. Die Staatsanwaltschaft sei mit dem Wortlaut seiner Erklärung einverstanden gewesen.

Die SPD nahm bereits vor einem Jahr ein Parteiausschlussverfahren auf – unterbrach es aber wegen laufender Ermittlungen. Nun drängt die Partei auf seinen Ausschluss: „Wir sind fassungslos darüber, dass Sebastian Edathy keinerlei Reue erkennen lässt und sich mit keinem Wort an die Opfer wendet“, sagte Partei-Vize-Vorsitzender Thorsten Schäfer-Gümpel.

Im Fall Edathy gibt es weiterhin eine zentrale ungeklärte Frage: Wer wusste wann Bescheid? Letztlich wurde die Affäre lediglich Friedrich zum Verhängnis. Andere mögliche Informanten Edathy´s von Seiten der Staatsanwaltschaft oder Politik wurden bisher nicht bekannt oder belangt.

 


AKTUALISIERUNG:

  • Die SPD hat nun einen Antrag zum Parteiausschluss von Edathy gestellt. Dieser lehnt einen Austritt aus der Partei weiterhin ab. Da ein Mitglied nur bei vorsätzlichem Verstoß gegen die Satzung ausgeschlossen werden kann, bleibt die Lösung unklar, wie die taz berichtet.
  • Mit ihrer Titelseite zeigt die Berliner Zeitung mittlerweile klar, wie sie im Fall Edathy denkt.
  • Wie der Spiegel aufdeckte, soll es zwischen Oppermann und Ziercke ein zweites Telefonat gemacht haben. Später seien Belege des zweiten Telefonates aus BKA-Listen entfernt worden.
  • Die taz berichtet: Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz kritisierte in einem Gespräch mit der Welt die Informationspolitik Oppermanns und Zierckes. Demnach seien deren Aussagen „immer latent unschlüssig.“

 

Weiterführende Quellen:

 

Der Kabarettist Volker Pispers geht auf den Fall Edathy ein (Ab Minute 2:17):

Die Pressekonferenz vom Dezember 2014 mit Stellungnahmen Edathy´s:

Ein LKW-Spediteur protestiert gegen das Urteil und bedruckt seine Fahrzeuge:

http://www.huffingtonpost.de/2015/03/10/lkw-protest-gegen-edathy-urteil-sonst-hatten-sie-ihn-ja-richtig-drangekriegt_n_6841134.html

Auf rechtliche Belange untersucht Thomas Fischer das Verfahren für Die Zeit:

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-03/geldbusse-edathy-kinderpornografie-prozess

„Lippenbekenntnisse haben nicht weitergeholfen“

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Nadine Schön ist seit 2009 für die CDU Mitglied im Deutschen Bundestag. Die 31-Jährige ist stellvertetende Fraktionsvorsitzende und unter anderem im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tätig.

Bei einer Rede im Deutschen Bundestag sagte Schön zur Frauenquote: „Der Tag, an dem wir dieses Gesetz wieder abschaffen, wird der beste Tag für Frauen sein.“ Für aktuellinfo.com nimmt Schön Stellung zur Frauenquote.

 

 

Frau Schön, ist die beschlossene Frauenquote ein Durchbruch oder nur ein Anfang?
Nadine Schön: Die feste Quote ist ein Türöffner, um Strukturen aufzubrechen. Den Rest können wir den talentierten Frauen selbst überlassen, denn es ist erwiesen, dass Frauen in Führungspositionen wie Magneten andere talentierte Frauen nach sich ziehen.

 

Braucht es die Quote, weil die Unternehmen nicht von alleine für mehr Gleichberechtigung sorgen?
Schön: Ja, so ist es. Es hat sich gezeigt, dass freiwillige Selbstverpflichtungen – die wir seit 14 Jahren haben –  und Lippenbekenntnisse nicht weitergeholfen haben. Daher war die Verabschiedung des Gesetzes der richtige Weg.

 

Arbeitnehmerinnen bekommen ihre Quote – rechtfertigt das auch bindende Quoten für Andere, wie zum Beispiel Alte oder Behinderte?
Schön: Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind Frauen. Wenn sie nicht adäquat in Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst vertreten sind, ist das ein Problem. Eine Quote für ältere Menschen in Führungspositionen halte ich nicht für erforderlich, da gerade für Aufsichtsratspositionen sicherlich gerne Menschen mit Berufserfahrung ausgesucht werden.
Eine Quote für die Beschäftigung behinderter Menschen gibt es bereits. Sobald Unternehmen mehr als 20 Angestellte haben, sind sie gesetzlich dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Stellen an behinderte Menschen zu vergeben

 

Was folgt idealerweise nach der 30-Prozent-Quote? Eine Abschaffung, weil sie von Unternehmen freiwillig umgesetzt wird oder eine bindende Erhöhung, etwa auf 50 Prozent?
Schön: Ideal wäre es,  wenn wir eines Tages die volle Gleichstellung der Geschlechter in unserer Gesellschaft erreicht hätten und genau so viele Frauen wie Männer in den Entscheidungsebenen vertreten wären. Dann könnten wir auf die Quote verzichten.

 

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Frauenquote: Durchbruch oder nur ein Anfang?

Gestern wurde die Frauenquote im Bundestag beschlossen. Da passt der morgige Weltfrauentag gut ins Bild. Doch ist eine Quote wirklich förderlich für mehr Gleichheit?

Für die Abstimmung reichte die Mehrheit der schwarz-roten Bundesregierung. Die Grünen sowie die Linke enthielten sich. 30 Prozent soll der Frauen-Anteil in Aufsichtsräten zukünftig sein – im vergangenen Jahr erreichten die DAX-30-Unternehmen laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung  knapp 25 Prozent.

Strafe bei Nicht-Beachtung: Posten bleiben unbesetzt

Das neue Gesetz betrifft 108 börsennotierte Unternehmen. Diese müssen ab 2016 dafür sorgen, in ihren Aufsichtsräten eine Frauenanteil von 30 Prozent zu haben. Bis diese Quote erreicht ist, dürfen nur Frauen in Aufsichtsräten eingestellt werden. Solange bleiben Posten unbesetzt, sollte es keine Bewerberin auf die Stelle geben. Anderweitige Sanktionen sind nicht vorgesehen.

Etwa 3500 mittelgroße Unternehmen sind am Rande von dem neuen Gesetz betroffen. Diese müssen sich ein eigenes Quotenziel für Frauen in Führungspositionen setzen und dieses veröffentlichen. Daran können sie gemessen werden – Sanktionen für ein Nicht-Erreichen der Quote gibt es für diese Unternehmen ebenfalls nicht.

In ihrem Kommentar für DIE ZEIT kritisiert Frida Thurm: „70 Prozent der Stühle bleiben von Männern besetzt.“ Da sei es armselig, dass die Frauenqote als Erfolg gelte. Den Beschluss begrüßten die Grünen und die Linke in ihren Reden im Bundestag zwar, hätten sich aber höhere Quoten (Die Grünen 40 Prozent, Die Linke 50 Prozent) gewünscht.

Frauen in Führungspositionen: Quote statt Qualität?

„Der Tag, an dem wir dieses Gesetz wieder abschaffen, wird der beste Tag für Frauen sein“, kommentiert Nadine Schön (MdB für die CDU) den Beschluss. Denn an diesem Tag brauche man „keine gesetzlichen Maßnahmen mehr, um Frauen in Führungspositionen zu bekommen“.

Doch genau dafür sei die Frauenqote da, befindet Frida Thurm (DIE ZEIT) in ihrem Kommentar: „Um das Old-Boys-Netzwerk aufzubrechen und dafür zu sorgen, dass Chefs nicht immer nur diejenigen befördern, mit denen sie Bier trinken gehen.“

Den Zwang, den die Quote mit sich bringt, kritisiert auch Jasper von Altenbockum in einem Kommentar für die Frankfurter Allgemeine: „Eine Quote ist aber etwas anderes als ein Recht. Das eine macht zum Objekt, das andere zum Subjekt.“ Doch ohne die Quote funktioniere es nicht, befindet Anna von Münchhausen in der Zeit: „Wie die Vergangenheit bewiesen hat, wird es sonst nie etwas.“ In der Besetzung von Führungspositionen finde „aktive Diskrimierung statt.“

Auf Unternehmen wie Volkswagen, RWE (beide bisher 15 Prozent Frauenanteil in Aufsichtsräten) oder E.ON (17 Prozent) wartet mit dem neuen Gesetz eine große Aufgabe. Andere widerrum haben die Quote bereits in ihren Aufsichtsräten erreicht: Die Deutsche Telekom und die Deutsche Post liegen mit 35 Prozent an der Spitze der zehn umsatzstärksten DAX-Unternehmen.

 

Weiterführende Quellen:

Frida Thurm nennt in ihrem Kommentar für DIE ZEIT männerlastig besetzte Posten in Wirtschaft und Politik:

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-03/frauenquote-bundestag-gesetz

Der Spiegel nennt alternative Gesetzentwürfe anderer Parteien sowie Bedenken rund um die Frauenquote:

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutscher-bundestag-beschliesst-frauenquote-a-1022093.html

Eine vorläufige Liste der vom Gesetz betroffenen Unternehmen (eine Liste der DPA, von der ARD veröffentlicht):

http://www.tagesschau.de/wirtschaft/frauenquote-151~_origin-a3adf409-fda7-4867-abf1-5d7285e74fbb.html

Jasper von Altenbockum kritisiert in der Frankfurter Allgemeinen die Quote. Diese mache die Frauen zu einem Objekt:

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-zur-einfuehrung-der-frauenquote-selbst-ist-die-frau-13468414.html